Vom „Falschen Selbst“ zur Selbst-integrierenden Trauma-Aufstellung
Fassung 14.8.24
Falsches Selbst Donald Winnikott, ein bekannter englisch-amerikanischer Psychoanalytiker behandelte vor 60 Jahren Kinder, und später die Kinder dieser Kinder. Für mich sympathisch: Er orientierte sich mehr an seiner Wahrnehmung, als an den analytischen Theorien. So beobachtete er bei seinen kleinen Patienten, dass manche Kinder in ihren ersten Beziehungen zu ihren Eltern mit ihren Bedürfnissen und Gefühlen nicht wahrgenommen wurden, ja dass sie dafür abgelehnt oder – mehr oder weniger subtil bestraft wurden. Diese Kinder passten sich an diese widrige emotionale Realität an – um zu überleben, um weitere Verletzungen zu vermeiden. Sie lernten schon als Baby, also unbewusst, diejenigen „spontanen Gesten“ – Ausdruck ihres „wahres Selbst“ – zu unterdrücken, die nicht erwünscht waren, und stattdessen ein „falsches Selbst“ zu entwickeln, das besser den Erwartungen und Bedürfnissen der Eltern entsprach. Offensichtlich identifizierten sie sich später mit diesem falschen Selbst, sodass es ihr eigenes Selbstbild, aber auch ihre Verhalten gegenüber den eigenen Kindern bestimmte – ohne dass ihnen das zunächst bewusst war. Obwohl sie es ja eigentlich „besser“ machen wollten als die eigenen Eltern! Das war das für manche sehr schmerzlich. Wenn sie dann erkannten, dass sie ihre eigenes Verhalten nur schwer ändern konnte, belastete das ihr ohnehin schon gemindertes Selbstwertgefühl, und sie holten sich therapeutische Hilfe. Warum konnte das Überlebensprogramm des Kleinkindes später das Erleben und Verhalten des Erwachsenen bestimmen?
Die Mandelkerne-Teil des limbische Systems Josph LeDoux, ein US-amerikanischer Hirnnforscher, erkannte vor 30 Jahren, dass es einen entwicklungsgeschichtlich sehr frühen Gehirnanteil gibt, der diese Erfahrungen (Traumata) und das daraus entstandene Programm speichert: die Amygdala (deutsch die Mandelkerne), ein Teil des so genannten limbische Systems. Diesen Gehirnanteil haben wir gemeinsam mit allen Säugetieren, sogar mit den Reptilien! Hier sind auch die angeborenen instinktiven Verhaltensmuster gespeichert, die für das Überleben einer Spezies wichtig sind. Zu diesem Überlebens-Instinkt gehört es, Reflexartig diejenigen Verhaltens Impulse, Gefühle und Bedürfnisse zu unterdrücken, die von Bezugspersonen abgelehnt oder bestraft werden, und stattdessen Verhaltensweisen zu entwickeln für die man Zuwendung oder Belohnung erhält. Und wenn sich diese erlernten Verhaltensweisen über Generationen als überlebenswichtig zeigen, dann werden auch sie so „sicher“ gespeichert, wie die angeborenen Instinkte, in den Amygdala. Diese Gedächtnis-Instanz des Wolfes machte es der Spezies Mensch möglich, ein Wildtier wie den Wolf so zu zähmen, zu domestizieren, dass er heute als Hund für viele ein treuer Gefährte ist. Die gleiche Gedächtnis-Instanz, welche die Domestikation des Hundes ermöglicht, finden wir auch beim Menschen: die Amygdala – oder das „Körpergedächtnis“ - steuert auch die Entwicklung des falschen Selbst beim Menschen.
Daher sind diese belastenden Erfahrungen gespeichert, aber zugleich dem Bewusstsein nicht zugänglich (abgespalten). Das Programm wirkt sozusagen am Bewusstsein vorbei. Die Betroffenen erleben das als Zwang. Die Auswirkung dieses Programms beziehen sich daher mehr auf den Körper. Wird dies Programm durch äussere Reize (Trigger) aktiviert, dann können körperliche Symptome auftreten, wie Stress, Panikattacken, aber auch psychosomatische Erkrankungen. Der Körper – nicht das Bewusstsein! - ist sozusagen Projektionsfläche oder Resonanzkörper für die Amygdala. Umgekehrt können körperorientierte Behandlungen (Körperspür-Übungen, Osteopathie) den Stress mindern. Bisweilen werden dabei auch bisher abgespaltene Details der Traumata bewusst. So entstand die Vorstellungen und der Begriffe eines „Körpergedächtnis“. (Und einer Körperorientierten Therapie.) Obwohl dieser Begriff anatomisch nicht korrekt ist und zudem geeignet ist, die zentrale Instanz der Amygdala zu verschleiern, verwende auch ich diesen Begriff in Anführungszeichen.
Gedächtnis-Rekonsolidierung Bis vor 20 Jahren galt noch als Dogma „Die Amygdala vergessen nichts“. In zwischen trat ein Paradigmenwechsel ein. Die neuere Gedächtnisforschung hat herausgefunden, dass und wie diese frühen Programme aus dem Gedächtnis buchstäblich gelöscht werden können. Diese angeborene Fähigkeit der Selbstheilung bis ins hohe Alter wird als Gedächtnis-Rekonsolidierung bezeichnet. Neuere Therapiekonzepte wie EMDR (Thomas Hensel) und die Kohärenztherapie (Ecker et al.) benutzen dies Prinzip und beschreiben die Vorgehensweise.
Das Grundprinzip ist relativ einfach. Wenn es gelingt, den Zusammenhang des Problems von heute mit dem verursachenden Beziehungstrauma von damals bewusst zu machen, dann kann der Klient erkennen, dass seine Strategien damals sinnvoll waren. So wie es für einen Nichtschwimmer sinnvoll ist, sich an einen Rettungsreifen zu klammern. Dann wird ihm auch klar, dass er diesen lebensrettenden Rettungsreifen heute nicht mehr braucht – weil er ja schwimmen kann. Dann kann er sich bewusst und angstfrei von diesen alten Strategien verabschieden. Ohne sich selber dafür abzuwerten – sie waren ja damals überlebenswichtig. Und ohne sie festhalten zu müssen – z.B. Perfektionismus, Helfer-Syndrom oder Über-Empathie – weil sie ihm vielleicht - bis zuletzt - Anerkennung und Bewunderung einbracht haben.
Beziehungstraumen in Systemaufstellungen Symbiosemuster . . Vor 10 Jahren beschrieb ich in „Symbiose in Systemaufstellungen“ ein systemisches Konzept der destruktiven Symbiose, die ich bei allen meinem psychiatrischen – aber bei mir selbst! - als krankmachendes Beziehungsmuster entdeckte. Offensichtlich landet man bei bestimmten Traumata immer in der Psychiatrie! Wenn man Glück hat „im weissen Psychiatermantel“. (Langlotz) Die Aufstellungsmethode half mir, dies Muster genauer zu beschreiben und zu verstehen, als Folge früher Beziehungstraumen. Inzwischen arbeite ich nicht mehr mit Personen (Seminarteilnehmern) als Repräsentanten, sondern nur noch mit kleinen farbigen, unterschiedlich geformten Holzklötzchen. Sie erwiesen sich als hervorragend geeignet, nicht nur um Beziehungen zu Personen zu klären, sondern auch um frühe Beziehungstraumen und die damals entwickelten Anpassungsreflexe symbolisch zu rekonstruieren. . . als Überlebensprogramm bei Beziehungstrauma Ich beobachtete, dass in belastenden Beziehungen der unbewusste Überlebenswille von Kindern sie dazu veranlasst, diejenigen „spontanen Gesten“, diejenigen Äusserungen ihres wahren Selbst zu unterdrücken und zu verleugnen oder abzuspalten, die von ihren Bezugspersonen abgelehnt oder sogar durch seelische oder körperliche Verletzungen bestraft werden. Dieser unterdrückte Teil des wahren Selbst beinhaltet emotionale und vitale Aspekte eines gesunden Kindes. Daher bezeichnete ich das als kindlich-emotionales Selbst (KieS). Da durch die Abspaltung die Orientierung an eigenen Gefühlen – sozusagen der eigene innere Kompass – ausgeschaltet ist, orientieren sich die Betroffenen an den Bedürfnissen und Erwartungen anderer. Um so mehr, wenn sie dadurch das Gefühl bekommen, beachtet, oder sogar wertgeschätzt – da nützlich zu sein. Das nennen wir die magisch-grandiosen Anpassungsstrategien eines Kindes. Das dadurch gewonnene Selbstwertgefühl ist extrinsisch – durch Leistung bedingt. Und es ist brüchig. Da es durch Selbstüberforderung (Tendenz zu Perfektionismus und Kontrolle) entsteht (Selbsterhöhung), die nur scheitern kann, folgen Erschöpfung und Selbstabwertung. Klienten rekonstruieren diese Strategie mit den Symbolen folgendermassen: zu unterst liegt (unterdrückt) ihr KieS (grüner Quader) darauf liegt das belastende frühe Trauma (ein roter Würfel) und zusätzlich die Traumata der Bezugsperson (blauer Würfel). Wenn ein Kind von einer Bezugsperson verletzt wird, spürt es die Ursache dafür: das eigene Trauma dieser Person. Das Alltags-Ich des Klienten („Fokus“ Symbol: roter Quader) stellt sich dann in die „erhöhte Position“. Das symbolisiert „magisch-grandiose“ Bewältigungsstrategien, mit folgenden Aspekten (ein Vorteil der Symbolsprache!): • Unterdrücken der eigenen Gefühle und Bedürfnisse, • Verantwortlich für die Probleme Anderer (Helfer-Syndrom), • Abspaltung der eigenen Gefühle (Verlust des eigenen Kompass). Statt dessen • Antennen nach aussen gerichtet, um sich nach den Bedürfnissen der anderen zu orientieren. („Extrinsischer“ Selbstwert durch Leistung für andere) • Überlegenheitsgefühl ( perfekter, selbstloser als die anderen) • brüchiges Selbstwertgefühl, weil Selbstüberforderung erkannt wird, folgt Selbstausbeutung (Erschöpfung) und Selbst-Abwertung.
Das Programm des falschen Selbst Diese in sich widersprüchlichen Strategien (Selbstverleugnung, magisch-grandiose Strategien mit brüchigem Selbstwertgefühl) sind erstaunlich stereotyp (archaisch). Sie konkretisieren und differenzieren das, was Donald Winnikott als falsches Selbst beschrieb. Dem Klienten sind diese Aspekte nicht bewusst, aber dennoch irgendwie vertraut. Offensichtlich versteht sein „Körpergedächtnis“ die Symbol-Sprache der Klötzchen, die man ja auch anfassen kann, sodass er auch die sprachliche Umschreibung nachvollziehen kann. Dann kann er erkennen, dass er sich unbewusst mit diesem Programm identifiziert hat. Bisweilen hält er es irrtümlich für einen Teil seiner Identität, seines Charakters. Wenn die magisch-grandiosen Aspekte zu sozialem Ansehen geführt haben, dann ist er darauf bisweilen sogar stolz, den andere überlegen, und kann dadurch zum bösartigen Narzissten werden – abgeschnitten von jeder Empathie, für andere, aber auch für sich selbst. Häufiger jedoch leiden die Betroffenen unter der Selbstverleugnung, der Selbst-Überforderung mit Erschöpfung und Burnout und massivem Selbstwertverlust. Und sie werten sich selber dafür ab – als wären sie selber Schuld an ihrem Leid, als hätten sie selber dies Leid verhindern können. Wenn die Betroffenen diese Zusammenhänge erkennen, dann können sie sich heute von diesem „toxischen“ Überlebensprogramm verabschieden. Wenn sie ihren inneren Raum befreien von diesem Trauma-Introjekt, dann können sie heute das Glück der Selbstverbindung erleben. Das ist unsere Variante der Gedächtnis-Rekonsolidierung:
Trauma-Aufstellungen als Zugang zum „Körpergedächtnis“ Oben habe ich erklärt, dass das in den Amygdala gespeicherte Trauma mit dem dazu gehörigen Überlebensprogramm dem Bewusstsein nicht zugänglich ist. Das ist ja der Grund dafür, dass die Überlebensstrategie des Kleinkindes für den Erwachsenen nur noch Stress erzeugt, und zum Verlust der Selbstachtung führen kann, weil er sich selber dafür abwertet. Offensichtlich besteht der Wert der Aufstellungsmethode darin, dass sie dem Klienten – und dem Therapeuten – einen unmittelbaren Zugang zu den Amygdala ermöglicht, und zwar über den Körper: Körpergefühl und „Körpergedächtnis“. Das „Körpergedächtnis“ wirkt bei dem • Aufstellungsbild, sowohl bei Beziehungsklärung als auch bei Trauma-Aufstellungen: der Klient stellt es spontan auf, orientiert an seinem (Körper-) Gefühl. • Abgrenzung: Der Klient spürt beim Abgrenzen körperlich eine Hemmung, ein Verbot. Das entspricht dem als Kind gespeicherte Verbot, das eigene Trauma, seine Bewältigungsstrategien oder das „falsche Selbst“ der Bezugsperson abzugrenzen. • Selbst-Verbindung. Wenn er als Erwachsener es wagt, das Verbotene von damals heute zu tun, dann erlebt er eine Freiheit, dann spürt er – auch körperlich! - wieder seine Kraft, die durch das Programm „verboten waren“. Dann spürt er wieder Verbindung mit seinem gesunden Wesenskern, seine wahren Selbst.
Orientierung am (erwachsenen) wahren Selbst (ES) Mit Donald Winnikott nehmen wir an, dass die kindlichen Anpassungsstrategien bzw. das falsche Selbst die Auswirkung eines Lebenswillens sind, den wir im gesunden Wesenskern verorten, das wir als „erwachsenes wahres Selbst“ bezeichnen. Dieses wahre Selbst ist unsere Essenz, unser Potential – unverlierbar und unzerstörbar. Allerdings muss dies Potential erst „geweckt“ werden durch die absichtslose Liebe der Bezugspersonen. Häufig ist es jedoch überlagert oder verdrängt durch eigene oder fremde Traumen, die irrtümlich als Introjekt abgespeichert sind. Dennoch haben die meisten Klienten eine tiefe Sehnsucht nach diesem wahren Selbst - nach dieser inneren Würde. Viele haben das Glück der Selbstverbindung auch schon erlebt – in der Natur, im Ausland oder bei spirituellen Übungen. In der Trauma-Aufstellung vollzieht der Klient schrittweise eine Abgrenzung aller „toxischer“ Trauma-Introjekte. Parallel dazu erlebt er eine schrittweise Annäherung an sein wahres Selbst. Beide Vorgänge, die sich gegenseitig verstärken, verändern sein Körpergedächtnis. Der Klient spürt - nicht selten zum ersten Mal – das Glück der Selbstverbindung: ein bisher unbekanntes Körpergefühl der Ruhe und Freiheit. Und er spürt seine Kraft, die nicht mehr durch das „Ertragen des Unerträglichen“ gebunden ist, sodass er sie gezielt für sich selber einsetzen kann. Für den Klienten, der bisher von seinem Trauma-Programm fremdgesteuert wurde, ist dies Neue ist noch nicht vertraut. Ja die Unberechenbarkeit – eigentlich das „Gewürz des Lebens“ - kann ihn verunsichern. Um einem Rückfall in das alte Muster vorzubeugen, bietet sich die „Gegenabgrenzung“ an: Er stellt sich vor, dass er – symbolisiert durch den roten Quader – „aus alter Gewohnheit“ zurück geht, zu den Aspekten des Trauma-Konglomerates, beginnend mit dem eigenen Trauma von damals. Und sein wahres Selbst – der gelbe Quader, in der anderen Hand – stoppt ihn kraftvoll: “das ist vorbei! Das gehört nicht mehr zu dir!“ Diese Aktivierung der eigenen Kraft ist sehr wirksam. Das lässt uns annehmen, dass sie, verbunden mit dem körperlich spürbaren STOPP über das „Köpergedächtnis“ wahrgenommen und in den Amygdala gespeichert werden. Sodass das alte Programm gelöscht wird?
„Körpergedächtnis“ als Zugang zu einem unbekannten Trauma Wenn ein Klient mit einem quälenden Problem kommt, und ihm ist kein verursachendes Trauma bekannt, dann hat sich zur Lösung ein besonderes Aufstellungs- Format bewährt. Wir nennen es das Format „Blockierendes Element“. Es setzt zwei Annahmen voraus: • Wenn der Klient mit seinem Selbst verbunden wäre, gäbe es kein quälendes Problem. • Wenn er das Problem hat, dann muss in diesen Situationen seine Verbindung mit seinem Selbst blockiert sein. Dieses „blockierende Element“ kann der Klient durch die Aufstellung erkennen, es benennen und auf die bewährte Weise auflösen. Meist handelt es sich um ein eigenes – oder ein übernommenes Trauma.
Aufstellungsprozess „blockierendes Element“ Der Klient stellt das blockierende Element in Bezug zu seinem Fokus und den beiden Selbst-Anteilen (ES und KieS), wie es seinem „Körpergedächtnis“ entspricht (Aufstellungsbild). Er legt einen Finger auf den Fokus und spürt nach, wie es diesem in dieser Konstellation geht. Meist entspricht das, was er körperlich spürt, genau seinem Gefühl in dieser Situation. Nun legt er ein Symbol für eine Grenze seines Raumes, und setzt das blockierende Element beherzt aus seinem Raum heraus, und spürt noch einmal nach. Das Gefühl kann unterschiedlich sein: „befreiend“, „jetzt fehlt etwas“, oder beides zugleich. Als nächstes legt er einen Finger auf das blockierende Element (roter Würfel) und benutzt sein „Körpergedächtnis“ indem er in seinen Körper hineinspürt. „Was taucht auf: ein Körpergefühl, ein Gefühl, ein Bild, eine Person, ein Satz. Alles was auftaucht, kann wichtig sein.“ Wenn nicht gleich ein frühes Trauma auftaucht, sondern z.B. Körper-Gefühle von Druck, Angst, Übelkeit, dann gibt es die Frage: Gehört das ursächliche Ereignis für diese Gefühle zu ihrer Biografie – oder in das System von Mutter oder Vater? Wenn das ursächliche Ereignis in ihr Leben gehört: wie alt waren sie da? Und fällt ihnen zu dieser Zeit ein Ereignis ein, das solche Gefühle auslösen kann?
Meist taucht dann ein eigenes – oder übernommenes Trauma auf, dass erstaunlich gut passt, zu dem quälenden Problem bzw. zu der jeweils auslösenden Situation (Trigger). Hier benützen wir die unbewussten Verbindungsbahnen von den Amygdala zum Körper in der umgekehrten Richtung, um ein vergessenes abgespaltenes Ereignis erkennen, benennen und bearbeiten zu können.
Das „Körpergedächtnis“ als Zugang zu vorgeburtlichen Traumen
Als mir das Thema verlorener Zwilling zum ersten Mal begegnete – vielleicht vor 25 Jahren? - da konnte ich es als Arzt und Naturwissenschaftler mir nicht vorstellen, dass der frühe Verlust eines Zwillings-Geschwisters in der 8.-12. Woche so gravierende Folgen haben könnte, für ein Kind und später für einen Erwachsenen. Inzwischen aber bin ich davon überzeugt, dass 30-40% von uns zu Beginn der Schwangerschaft nicht alleine im Mutterleib waren, sondern zusammen mit einem Zwilling – seltener auch mit zwei Drillingen. Und dass die Betroffenen diesen „Zwillingsmodus“ - diese harmonische Zweisamkeit – so gespeichert haben, als wäre das ihre eigentliche Identität. Daher war der frühe Verlust dieses Zwillings ein existenziell bedrohliches Trauma, wie Amputation ohne Narkose.
Körpergedächtnis und Zwillingsverlust Die Aufstellungsmethode ist besonders gut geeignet, dieses vorgeburtliche – und daher auch vorsprachliche Trauma zu überprüfen, da sie sich der „Symbolsprache“ der Klötzchen bedient, die dem „Körpergedächtnis“ verständlich ist. Da dies Verlusttrauma den Betroffenen – Mutter und Kind – meistens nicht bewusst ist, ist der „Zugang“ zu diesem Trauma über das Körpergedächtnis der einzig mögliche. Der Klient stellt nach seinem „Körpergedächtnis“ – nicht nach seinem Verstand! - für den vermuteten Zwilling und für seinen eigenen Wesenskern (sein „Wahres Selbst“) Stellvertreter oder Symbole auf. Meist steht er dann dem vermuteten Zwilling näher als seinem wahren Selbst! Nicht selten ist er selber davon überrascht! Dann überprüfe ich - sozusagen experimentell - durch die Aufstellung, ob die Begegnung und dann der Abschied von diesem vermuteten Zwilling eine emotionale Reaktion auslöst. Wenn dann sehr heftige Gefühle, Schmerz, und Trauer den Klienten überfluten, wenn er dann „Rotz und Wasser heult“ – zu seiner eigenen Überraschung! - dann ist auch für einen zunächst skeptischen Klienten die Hypothese eines verlorenen Zwillings bewiesen.
Der „Zwillingsmodus“ als Identität Um dies Phänomen zu erklären, muss man annehmen, dass die Existenz eines Zwillingswesens im Mutterleib vom Klienten bereits als Embryo im „Körpergedächtnis“ abgespeichert wurde, so als gehöre dies Wesen unverlierbar zu ihm. So als könne er nur in diesem „Zwillingsmodus“ glücklich und vollständig sein. Denn den Modus „vollständig alleine im Mutterleib“ konnte er in seinem“Körpergedächtnis“ nicht abspeichern.
Zwillingsverlust wie Amputation Dann wird nachvollziehbar, wie sehr der frühe Verlust dieses Zwillings dessen Identitätsgefühl bedroht hat. Daher die Sehnsucht nach einer verschmelzenden Beziehung. Aber auch der existentiell bedrohlichen Schmerz, wie bei einer Amputation „ohne Narkose“, wurde im „Körpergedächtnis“ gespeichert, ohne dass das dem Klienten bewusst werden konnte.
Vorgeburtliche Erfahrungen sind vorsprachlich und werden daher im Körper abgespeichert Da dies Ereignis pränatal, also in einer vorsprachlichen Entwicklungsstufe stattfand, konnte es nur als Gefühl im Körper abgespeichert werden. Die Hirnrinde, die sprachliche Inhalte speichern kann, war noch nicht entwickelt. Spätere Erfahrungen von Trennung oder Verlassen-werden können offensichtlich dieses Verlusttrauma „triggern“, sodass der Klient überflutet wird von den damaligen Gefühlen: einer tiefen Trauer, nicht selten verbunden mit Schuldgefühlen, Verzweiflung und Wut.
Die Symptome des „überlebenden“ Zwillings habe ich an anderer Stelle ausführlich beschrieben 1)
„Körpergedächtnis“ – als „High-Tech“- Forschungsobjekt
Frau Dr. Esther Kühn, Magdeburg versucht, psychologische Vorgänge mit biologischen Methoden zu beschreiben. Mit Ihrer Forschung zum „BodyMemory“, dem Körpergedächtnis, untersucht sie die Frage, wie man körperliche Erfahrungen, beispielsweise Berührungen, abspeichert und wie diese die Psyche beeinflussen. Dazu verwendet die Forscherin hochmoderne Technik, wie eine 7-Tesla-Magnetresonanztomographen (MRT) am DZNE, um tief ins Innerste des Gehirns ihrer Probanden schauen.
Wir haben kein High-Tech-Labor zu Verfügung. Wir arbeiten online im „Home-Labor“. Der Klient benennt sein Anliegen. Wir stellen ihm das Instrument „Aufstellungen mit Symbolen“ zu Verfügung. Die Symbolsprache der Aufstellung ermöglicht es seinem Körpergedächtnisses, die eigentliche Ursache seines aktuellen Problems erkennen, zu benennen. Mit Symbolen kann er sein damaliges Trauma und die der Bezugspersonen rekonstruieren, zusammen mit seinen damals gespeicherten Anpassungs-Reflexen.
Jetzt kann er erkennen, dass sein Überlebensprogramm für das Kind von damals lebensrettend war. Daher muss er sich heute dafür nicht schämen oder abwerten. Wenn er erkennt, dass dies Programm für ihn als Erwachsenen mit Selbst-Überforderung, Erschöpfung und Selbst-Abwertung verbunden ist, kann er es löschen.